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Das Klirren von Flaschen an Ashlings Tür kündigte Joy an.
»Ted kommt auch gleich - lass die Tür angelehnt!« Mit großem Getöse stellte Joy eine Flasche Weißwein auf Ashlings winziger Küchentheke ab.
Ashling machte sich innerlich bereit. Sie wurde nicht enttäuscht.
»Phil Collins«, sagte Joy mit einem hinterlistigen Glitzern in den Augen, »Michael Bolton oder Michael Jackson - und du musst mit einem von ihnen schlafen.«
Ashling schüttelte sich. »Also, auf keinen Fall Phil Collins, und auf keinen Fall Michael Jackson, und auf gar keinen Fall Michael Bolton.«
»Du musst dich für einen entscheiden.« Joy war mit dem Korkenzieher beschäftigt.
»Himmel.« Ashlings Gesicht drückte ihren Widerwillen aus. »Dann Phil Collins, den habe ich schon eine Weile nicht genommen. Gut, du bist dran. Benny Hill, Tom Jones oder... lass mal sehen, wer ist denn richtig widerlich? Paul Daniels.«
»Richtig Sex oder nur...«
»Richtig Sex«, sagte Ashling bestimmt.
»Dann Tom Jones«, sagte Joy seufzend und hielt Ashling ein Glas Weißwein hin. »Jetzt zeig mir, was du anziehst!«
Es war Samstagabend und Ted hatte einen Probeauftritt bei einer Comedy-Show. Er würde zum ersten Mal vor Publikum, abgesehen von Freunden und Familie, auftreten, und Ashling und Joy begleiteten ihn, um ihm Beistand zu leisten und hinterher mit zu der Party zu gehen.
Joy - deren Nachname denkwürdigerweise Ryder war wohnte in der Wohnung unter Ashling. Sie war klein und drall, hatte lockiges Haar und war gefährlich, weil sie eine unmäßige Gier nach Alkohol, Drogen und Männern an den Tag legte und weil sie es sich außerdem zur Aufgabe gemacht hatte, Ashling als Komplizin zu gewinnen.
»Komm mit ins Schlafzimmer«, sagte Ashling, und sie quetschten sich beide durch die Tür.
»Ich ziehe diese hellen Cargo-Hosen an und ein kurzes Oberteil.« Ashling drehte sich vor dem Schrank um und trat Joy versehentlich auf den Fuß; die zuckte zurück und stieß sich den Ellbogen an dem tragbaren Fernsehgerät.
»Aua! Machen dich diese kleinen Schuhkartons nicht manchmal wahnsinnig?« Joy stöhnte und rieb sich den Ellbogen.
Ashling schüttelte den Kopf. »Ich finde es toll, in der Stadt zu wohnen; da kann man eben nicht alles haben.«
Ashling zog sich schnell für den Abend um.
»Ich würde in diesen Klamotten wie ein Michelin-Männchen aussehen«, sagte Joy mit einem schüchternen Blick der Bewunderung. »Es ist schrecklich, eine birnenförmige Figur zu haben!«
»Aber wenigstens hast du eine Taille. Eigentlich wollte ich noch was mit meinen Haaren machen ...«
Ashling hatte mehrere bunte Schmetterlingsspangen gekauft, nachdem sie gesehen hatte, wie hübsch Trix ihre Haare damit geschmückt hatte. Aber als sie zwei Haarsträhnen aus dem Gesicht nach hinten klemmte, war die Wirkung nicht die gleiche.
»Ich sehe einfach nur blöd aus!«
»Stimmt«, sagte Joy freundlich. »Glaubst du, dass Mick, der Halb-Mann-halb-Dachs-Typ, zu der Party kommt?«
»Möglich. Du hast ihn ja auf einer Party mit Ted kennen gelernt, oder? Er ist doch mit irgendwelchen Komikern befreundet.«
»Mmmmm«, nickte Joy verträumt. »Aber das ist viele Wochen her, und seitdem habe ich ihn nicht gesehen. Wohin er wohl entschwunden ist, der geheimnisumwobene Halb-Mann-halb-Dachs-Typ? Hol die Tarot-Karten, dann gucken wir schnell mal, was passieren wird.«
Sie gingen in das winzige Wohnzimmer, Joy nahm eine Karte von dem Stapel und gab sie Ashling. »Die Zehn der Schwerter. Das ist Schiete, oder?«
»Schiete«, stimmte Ashling ihr zu.
Joy nahm die Karten und blätterte sie mit dem Daumen durch, bis sie eine gefunden hatte, die ihr gefiel. »Die Königin der Stäbe, das ist schon eher was! Jetzt bist du dran.«
»Drei Kelche.« Ashling hielt die Karte hoch. »Anfänge.«
»Das heißt, du lernst auch einen Typen kennen.«
Ashling lachte.
»Es ist doch eine Ewigkeit her, dass Phelim nach Australien gegangen ist, oder?«, fragte Joy. »Zeit, dass du über ihn hinwegkommst.«
»Ich bin schon längst über ihn hinweg. Ich war doch diejenige, die Schluss gemacht hat. Weißt du das nicht mehr?«
»Nur weil er dich nicht heiraten wollte. Obwohl, das spricht für dich. Wenn mich einer nicht heiraten will, schicke ich ihn trotzdem nicht weg. Du bist sehr stark.«
»Ich würde das nicht stark nennen. Ich konnte einfach die Spannung nicht länger ertragen, dieses dauernde Warten, dass er sich entscheidet. Ich stand kurz vor dem Nervenzusammenbruch.«
Phelim war fünf Jahre lang mal mehr, mal weniger Ashlings Freund gewesen. Sie hatten gute Zeiten miteinander erlebt und nicht so gute Zeiten, weil Phelim im letzten Moment immer gekniffen hatte, wenn es darum ging, sich ganz und gar zu der Beziehung zu bekennen.
Ashling leistete ihren Beitrag zur Festigung der Beziehung, indem sie es vermied, auf die Fugen zwischen Pflastersteinen zu treten, einzelne Elstern begrüßte, Pennies von der Straße aufhob und ihr eigenes sowie Phelims Horoskop studierte. Ihre Taschen waren ausgebeult von all den Glück bringenden Kieselsteinen, Rosenquarzen und Wundermedaillons, die sie mit sich herumtrug, und von ihrem Buddha hatte sie fast die ganze Goldfarbe abgerieben.
Jedesmal, wenn Phelim und sie wieder zusammenfanden, versiegte der Quell der Hoffnung mehr, und schließlich war Ashlings Liebe von der ganzen Unschlüssigkeit ausgebrannt. Wie jede ihrer Trennungen kam auch die endgültige ohne Bitterkeit. Ashling sagte in aller Ruhe: »Du redest dauernd davon, dass du es satt hast, hier in Dublin festzusitzen, und dass du eine Weltreise machen möchtest. Warum tust du es dann nicht? Tu es doch!«
Auch jetzt bestand noch eine schwache, aber wache Verbindung zwischen ihnen, trotz der Entfernung von zwölftausend Meilen. Im Februar war er zur Hochzeit seines Bruders nach Dublin gekommen und hatte als erstes Ashling besucht. Sie waren sich in die Arme gefallen und hatten sich minutenlang umschlungen gehalten, mit Tränen in den Augen, anscheinend von dem Rauch in der Luft.
»Arschloch«, sagte Joy energisch.
»Das stimmt nicht«, stellte Ashling richtig. »Er konnte mir nicht geben, was ich wollte, aber deswegen hasse ich ihn noch lange nicht.«
»Ich hasse alle meine Verflossenen«, prahlte Joy. »Und ich kann es kaum erwarten, dass der Halb-Mann-halb-Dachs-Typ auch mein Verflossener wird, dann müsste ich nicht mehr dauernd an ihn denken. Wenn er jetzt heute Abend da ist? Ich muss unerreichbar erscheinen. Wenn ich doch nur... nein, ein Verlobungsring ginge zu weit. Ein Knutschfleck, das wäre vielleicht was.«
»Und wo willst du den herkriegen?«
»Von dir! Hier«, sagte Joy und schob ihre Lockenpracht zur Seite. »Macht es dir was aus?«
»Allerdings!«
»Bitte.«
Und weil sie gerne hilfsbereit war, überwand Ashling ihr Zögern und setzte ihre Lippen halbherzig zu einem Knutschfleck an Joys Hals an.
Mittendrin sagte jemand: »Oh.« Sie blickten auf und erstarrten in einer sehr schuldbewussten Pose. In der Tür stand Ted. Er wirkte verstört.
»Die Tür stand offen ... ich wusste nicht...« Dann riss er sich zusammen und sagte: »Ich hoffe, ihr werdet glücklich miteinander.«
Ashling und Joy sahen sich an und fingen lauthals an zu lachen, bis Ashling ihm aus Barmherzigkeit die Situation erklärte.
Er sah die Tarot-Karten auf dem Tisch und schnappte sie sich. »Acht Stäbe, Ashling, was bedeutet das?«
»Erfolg im Beruf«, sagte Ashling. »Dein Auftritt heute Abend wird ein durchschlagender Erfolg.«
»Ja, aber werde ich auch die Mädels im Sturm erobern?«
Für Ted gab es nur einen Grund, warum er Komiker werden wollte: Er wünschte sich eine Freundin. Er hatte gesehen, wie sich die Frauen an die Komiker heranschmissen, die in Dublin auftraten, und war der Auffassung, dass er als Komiker bessere Chancen haben würde als bei einer Partnervermittlung. Natürlich würde er niemals zu einer richtigen Partnervermittlung gehen, sondern immer nur zu der Ashling-Kennedy-Agentur, denn Ashling versuchte regelmäßig, Partner für ihre partnerlosen Freunde zu finden. Aber die Einzige von Ashlings Freundinnen, die Ted mochte, war Clodagh, und die war unverfügbar. Sehr unverfügbar.
»Nimm noch eine«, forderte Ashling ihn auf.
Er nahm eine Karte - es war der Gehängte.
»Heute Abend wirst du auf jeden Fall Glück haben«, versprach Ashling ihm.
»Aber das ist der Galgenmann!«
»Das macht nichts.«
Ashling wusste, dass ein Mann auf der Bühne - und er konnte potthässlich sein und auf der Gitarre rumdreschen und einen Wams und purpurfarbene Strumpfhosen tragen und erzählen, dass man erst Ewigkeiten auf einen Bus wartet, und dann kommen drei auf einmal - bei Frauen immer ankam. Selbst wenn er auf einem dreißig Zentimeter hohen staubigen Podest in einem zehn Quadratmeter großen Hinterzimmer stand, hatte er sofort eine eigentümliche, verführerische Ausstrahlung.
»Ich habe beschlossen, meinen Auftritt ein bisschen abzuändern, ihm eine surreale Note zu geben. Und was über Eulen zu machen.«
»Über Eulen?«
»Eulen haben vielen Erfolg gebracht«, verteidigte Ted sich. »Zum Beispiel Harry Hill und Kevin McAleer.«
Ach du lieber Himmel. Ashling wurde flau. »Kommt, lasst uns gehen.«
Auf dem Weg zur Tür kam es zu einem kleinen Stau, weil alle drei den Glück bringenden Buddha reiben wollten.
Die Comedy-Show fand in einem überfüllten, lauten Club statt. Ted kam erst irgendwann in der Mitte an die Reihe, und obwohl die professionellen Komiker witzig und amüsant waren, konnte Ashling sich nicht richtig daran erfreuen, weil sie so gespannt auf Teds Auftritt war.
Vielleicht würde es Ted so ergehen wie einem anderen Neuling vor ihm. Es war ein merkwürdiger, haariger Jüngling, dessen Auftritt hauptsächlich darin bestand, die Cartoon-Figuren Beavis und Butthead zu imitieren. Die Zuschauer waren gnadenlos, sie buhten und riefen: »Aufhören mit dem Scheiß«, so dass Ashling ganz schlecht wurde, wenn sie an Ted dachte.
Und dann war Ted dran. Ashling und Joy hielten sich an den Händen, wie stolze, doch aus guten Gründen besorgte Eltern. Nach wenigen Sekunden waren ihre Hände so glitschig vom Schweiß, dass sie sich loslassen mussten.
Im Licht des einzelnen Scheinwerfers sah Ted zart und verloren aus. Zerstreut rieb er sich den Bauch und hob einen Moment lang sein T-Shirt, was einen kurzen Blick auf den Gummizug seiner Calvins und seinen flachen, behaarten Bauch freigab. Ashling fand das gut. Die Mädchen würden darauf abfahren.
»Kommt eine Eule in eine Bar«, fing Ted an. Die Gesichter der Zuhörer waren ihm aufmerksam zugewandt. »Sie bestellt einen halben Liter Milch, eine Packung Chips und zehn Zigaretten. Darauf dreht sich der Barkeeper zu seinem Freund um und sagt: ›Sieh dir das an - eine sprechende Eule!«‹
Man hörte ein verdutztes Kichern, sonst blieb es erwartungsvoll still. Die Zuhörer warteten auf die Pointe.
Angespannt fing Ted mit einem neuen Witz an. »Meine Eule hat keine Nase«, sagte er.
Alles blieb still. Ashling war im Begriff, sich ein Loch in die Handfläche zu bohren, so aufgeregt war sie.
»Meine Eule hat keine Nase«, wiederholte Ted, und in seiner Stimme schwang Verzweiflung.
Plötzlich verstand Ashling. »Wie riecht sie denn?«, rief sie mit zitternder Stimme.
»Schrecklich!«
Rundum sahen sich die Zuhörer verblüfft an. Ihre Mienen waren perplex, als wollten sie sagen: »Was soll der Quatsch ...?«
Und Ted mühte sich weiter ab. »Neulich traf ich einen Freund, der sagte: ›Wer war denn die Dame, mit der ich dich neulich auf der Grafton Street gesehen habe?‹ Und ich sagte: ›Das war keine Dame, das war meine Eule!«‹
Und plötzlich begriffen die Zuhörer. Erst war es ein dünnes Lachen, dann schwoll es an und breitete sich aus, bis die Menschen sich ausschütteten vor Lachen. Allerdings musste man zugeben, dass es Samstagabend war und die Anwesenden schon ziemlich betrunken waren.
Hinter sich hörte Ashling jemanden keuchend sagen: »Der Kerl ist fantastisch. Komplett übergeschnappt.«
»Was ist gelb und weise?«, fragte Ted mit einem bezaubernden Lächeln.
Jetzt hatte Ted die Zuhörer in der Hand; sie hielten den Atem an und warteten auf die Pointe. Ted sah sich lächelnd im Raum um. »Euler Vanillepudding!«
Das Gelächter war ohrenbetäubend.
»Was ist grau und hat einen Rucksack?«
Eine erregte Pause.
. »Eine Wandereule. In dem Fall eine graue.«
Wieder brandete das Lachen durch den Raum.
»Stellen Sie sich vor, Sie sprechen mit Bewerbern für eine Stelle.« Ted hatte sich freigeschwommen, und die Zuhörer kamen auf ihre Kosten. »Sie haben also drei Eulen vor sich und fragen jede, was die Hauptstadt von Rom ist. Die Erste sagt, sie weiß es nicht, die Zweite sagt Italien, die Dritte sagt, Rom ist die Hauptstadt. Welcher Eule geben Sie die Stelle?«
»Der Eule mit den größten Titten!«, rief jemand von ganz hinten im Raum, und wieder gab es tosendes Gelächter, und der Applaus klang wie ein Schwärm aufsteigender Vögel. Die Berufskomiker, die Ted nur eine Chance gegeben hatten, damit er ihnen nicht mehr auf die Nerven ging, sahen sich besorgt an.
»Holt ihn runter«, murmelte Bicycle Billy. »Der elende kleine Sack.«
»Leider muss ich gehen«, sagte Ted bedauernd, als Mark Dignan ihm mit einer Geste zu verstehen gab, dass man ihm die Kehle durchschneiden würde.
»Ooch, schade«, tönte es enttäuscht.
»Wir haben ein Monster erschaffen!«, flüsterte Bicvcle Billie zu Archie Archer, dessen richtiger Name Brian O‘Toole war.
»Mein Name ist Ted Mullins, der mit den ollen Witzen. Oder sollte ich sagen, mit den Eulen-Witzen?« Ted zwinkerte den Zuhörern zu. »Und ihr wart großartig!«
Unter hysterischem Gekreische, Gepfeife, Füßetrampeln und donnerndem Applaus stieg Ted von der Bühne.
Später, als sich die Zuhörer zum Ausgang durchkämpften, hörte Ashling immer wieder Kommentare über Ted.
»Was ist gelb und weise? Ich dachte, ich würde sterben vor Lachen.«
»Dieser Ted-Typ, der war klasse. Und sexy.«
»Ich fand das toll, wie er sein -«
»- sein T-Shirt hochgehoben hat? Ja, ich auch.«
»Meinst du, er hat ´ne Freundin?«
»Bestimmt.«
Die Party fand in einem modernen Wohnblock am Kai statt. Da es Mark Dignans Wohnung war und eine Menge Komiker unter den Gästen waren, hatte Ashling sich vorgestellt, sie würde sich den ganzen Abend nicht mehr einkriegen vor Lachen. Doch obwohl es in dem Raum voll und laut war, herrschte doch eine eigentümlich gedämpfte Stimmung.
»Die halten sich bedeckt, nicht dass ihnen jemand die Pointen klaut«, erklärte Joy, vielfach erprobte Teilnehmerin bei derartigen Veranstaltungen. »Ohne zahlendes Publikum bringen die keinen einzigen lustigen Satz über die Lippen, und wenn ihr Leben davon abhängt. Wo ist er denn nun?«
Joy machte sich auf die Suche nach dem Halb-Mann-halb-Dachs-Typ, und Ashling goss sich in der kleinen Küche ein Glas Weißwein ein, während sich Bicycle Billy neben ihr einen Joint drehte. Da er klein war und ein bisschen wie ein Troll aussah, brachte sie es fertig, ihn anzulächeln und zu sagen: »Sie waren sehr komisch, schönen Dank! Was Sie tun, muss Ihnen große Befriedigung verschaffen.«
»Ach, überhaupt nicht«, sagte er gereizt. »Ich schreibe einen Roman, verstehen Sie. Das ist das, was meinem Leben eigentlich einen Sinn gibt.«
»Das ist doch schön«, sagte Ashling ermutigend.
»Das ist es nicht.« Billy war sehr vehement. »Es ist sehr ehrlich, sehr deprimierend. Sehr düster. Ah, wo ist mein Feuerzeug?«
»Darf ich?« Ashling strich ein Zündholz an und half Billy, seinen Joint in Brand zu setzen. Sie hatte das Gefühl, er würde ihm guttun.
Mitten im Wohnzimmer, im Getümmel der Gäste, sah sie Ted auf einem Sessel thronen, und vor ihm standen die Mädchen ordentlich in einer Schlange an und warteten darauf, bis sie an der Reihe waren und ihre Vorzüge ins rechte Licht rücken konnten. Am Fenster stand eine versunkene Gestalt wie eine graue Säule und starrte durch einen Spalt seines langen schwarzen Haars auf das pechschwarze Wasser des Liffey. Aha, dachte Ashling. Mick, der geheimnisumwobene Halb-Mann-halb-Dachs-Typ. Joy stand in der Nähe und war offensichtlich damit beschäftigt, ihn zu ignorieren.
Angesichts der Halb-Mann-halb-Dachs-Situation beschloss Ashling, nicht mit Joy zu sprechen. Sie stand einen Moment herum und trank ihren Wein, als ihr Blick auf Mark Dignan fiel. Da er fast zwei Meter zehn groß war und von allen Menschen, die gerade erdrosselten einmal ausgenommen, die glupschigsten Augen hatte, konnte sie auch mit ihm ein paar Worte wechseln.
Aber als sie sich bewundernd zu seinem Auftritt äußerte, wischte er ihre Worte mit einer ungelenken Handbewegung weg. »Es wird mich über Wasser halten, bis mein Roman veröffentlich wird.«
»Ach, Sie schreiben auch einen Roman. Aha... Worüber denn?«
»Er handelt von einem Mann, der die ganze Welt in all ihrer Verderbtheit sieht.«
Marks Augen traten noch weiter hervor. Wenn er nicht aufpasste, würden sie ihm noch aus dem Kopf fallen, dachte Ashling besorgt.
»Sehr deprimierend«, prahlte Mark. »Einfach unglaublich deprimierend. Er verabscheut das Leben mehr als das Leben selbst.«
Mark wurde gewahr, dass er etwas einigermaßen Geistreiches gesagt hatte, und blickte ängstlich um sich, falls ihm jemand zugehört hatte.
»Na, dann viel Glück!« Blöder Kerl. Ashling ging weiter und wurde von einem begeisterten jungen Mann in Beschlag genommen, der leuchtende Augen hatte und ihr erläuterte, dass Ted ein Anarcho-Komiker sei, ein ironischer postmoderner Dekonstruktivist des Genres. »Er hat den Grundwitz genommen und ihn komplett demontiert. Er stellt unsere Erwartungen von dem, was komisch ist, in Frage. Übrigens, haben Sie Lust zu tanzen?«
»Was? Hier?« Ashling war völlig aus dem Konzept gebracht. Es war schon lange her, dass ein fremder Mann sie zum Tanz aufgefordert hatte. Besonders in einem fremden Wohnzimmer. Doch als sie sich umsah, stellte sie fest, dass alle - das heißt natürlich alle Frauen - sich irgendwie zu der Musik von Fat Boy Slim verrenkten.
»Nein, danke«, entschuldigte sie sich. »Es ist noch zu früh für mich. Ich bin noch nicht enthemmt genug.«
»Na gut, dann frage ich Sie in einer Stunde noch einmal.«
»Wunderbar!«, rief sie ohne Überzeugung und musterte seine begierige Miene. Auch in einer Stunde wäre sie nicht betrunken genug. Selbst ein ganzes Leben würde nicht ausreichen.
Eine Weile später entdeckte sie zu ihrer Freude, dass Joy den Halb-Mann-halb-Dachs-Typen abschleckte.
Sie stand noch ein bisschen herum. Obwohl es keine besonders gelungene Party war, stellte sie überrascht fest, dass sie sich in der Menge glücklich fühlte und froh war, am Rande des Geschehens zu bleiben. Solche Zufriedenheit war selten: Normalerweise fühlte Ashling sich irgendwie nicht vollständig. Selbst wenn sie wirklich erfüllt war, fehlte etwas, fehlte in ihrem tiefsten Innern. Wie der stecknadelkopfgroße Punkt, wenn man den Fernseher am Abend ausstellte.
Aber jetzt war sie ruhig und friedlich, allein, aber nicht einsam. Auch wenn keiner der Männer, mit denen sie gesprochen hatte, ihr Typ war, kam sie sich nicht wie eine Versagerin vor, als sie beschloss, nach Hause zu gehen.
An der Tür traf sie wieder den begeisterten jungen Mann. »Sie gehen schon? Einen Moment noch!« Er kritzelte etwas auf ein Blatt Papier, das er ihr gab.
Sie wartete, bis sie draußen war, bevor sie es las: Ein Name - Marcus Valentine -, eine Telefonnummer und die Anweisung: »Bellez moi!«
Den ganzen Abend hatte sie nicht so gelacht.
Der Weg nach Hause dauerte zehn Minuten. Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Als sie bei ihrem Haus ankam, lag ein Mann im Eingang und schlief.
Es war derselbe Mann, der vor ein paar Tagen auch da gelegen hatte. Nur dass er jünger war, als sie gedacht hatte. Er war blass und dünn und hatte sich fest in seine schmutzige, orangefarbene Wolldecke gerollt; er sah kaum älter aus als ein Kind.
Sie wühlte in ihrem Rucksack, holte eine Pfundmünze heraus und legte sie neben seinen Kopf. Aber da könnte sie gestohlen werden, dachte sie und schob das Geld unter die Wolldecke. Dann stieg sie über ihn hinweg und schloss auf.
Als sie die Tür hinter sich zuziehen wollte, hörte sie ein »Danke«, so schwach, dass sie nicht genau wusste, ob sie es sich eingebüdet hatte.
Während Ted seinen großen Auftritt in der Funny Farm hatte, schloss Jack Devine die Tür zu seinem Haus in einer düsteren, dem Meer zugewandten Ecke von Ringsend auf.
»Warum hast du mich nicht angerufen?«, wollte Mai wissen. »Nie hast du Zeit für mich.« Sie schob sich an ihm vorbei und ging nach oben. Noch auf der Treppe fing sie an, sich die Hose aufzuknöpfen.
Jack sah auf das Meer hinaus, das fast schwarze Nachtwasser, das so unergründlich war wie seine Augen. Dann schloss er die Tür und folgte ihr nach oben.
Zur gleichen Zeit war Clodagh in einem hübschen edwardianischen Backsteinhaus in Donnybrook dabei, sich den vierten Gin zu Gemüte zu führen und dem Unvermeidlichen ins Gesicht zu sehen. Es war neunundzwanzig Tage her.